Zu keinem anderen Thema gibt es so viele Weisheiten und Kalendersprüche wie zur Liebe. Und bei keinem anderen Thema ist unsere Erwartungshaltung derart hoch, dass es manchmal unausweichlich scheint, nicht an diesen Maßstäben zu scheitern.
Was Liebe ist und was sie darf, das scheint klar definiert. Ewig fortwährend, exklusiv, in vollkommener Übereinstimmung und vor allem romantisch soll sie sein, egal ob das nun immer in unseren modernen Alltag passt oder nicht. Ein Auszug aus dem Buch Intimität: Wie wir zueinander finden.
Natürlich spricht nichts dagegen, solche Ideale zu verfolgen. Aber die Liebe auf einen überhohen Sockel stellen, den wir kaum mehr erreichen? Die Frage, die sich dabei stellt: Könnten unsere Anforderungen, die wir an die Liebe haben, nicht manchmal verhindern, dass sie passiert? Nicht nur meine Erfahrung, sondern auch die meiner Klient*innen zeigt: Lebendige Liebe erfordert, dass wir sie immer wieder auf den Prüfstand stellen und neu definieren müssen, um daran zu wachsen. Und dass genau dieser Prozess einen großen Teil dessen ausmacht, was wir Liebe, aber auch Intimität nennen.
Liebe ist keine Illusion
Niemand hat etwas von Liebesbekundungen, die über viele Jahre wie selbstverständlich gelten und nicht hinterfragt werden. Ich meine damit nicht, dass wir die Liebe kleinreden oder gleich aufkündigen müssen, wenn sie zu stagnieren droht. Aber im Lauf der Jahre verändern sich unsere Persönlichkeiten. Ebenso die Art, wie beide Partner die Beziehung leben (wollen), sodass immer wieder einmal neu verhandelt werden muss. Jedenfalls dann, wenn die Liebe dynamisch bleiben soll. Der Autor Oskar Holzberg formuliert es so: „Liebe ist keine Illusion, aber wir haben zu viele Illusionen über die Liebe.“

Um diese Täuschungen aufzudecken hilft es, immer wieder einmal innezuhalten und zu hinterfragen:
- Was trägt uns noch als Paar, was nicht mehr?
- Was hat sich verändert?
- Welche Rückschlüsse ziehen wir daraus, damit wir nicht in Mustern vor uns hinleben, die sich stets wiederholen? In einer Gleichgültigkeit, die jede Liebe erstickt?
Bertolt Brecht konfrontierte sein Theaterpublikum mit Spruchbändern, auf denen stand: „Glotzt nicht so romantisch!“ Die Zuschauer sollten sich nicht von der Handlung „einlullen“ lassen, sondern reflektiert bleiben. Die gleiche innere Aufforderung, von Zeit zu Zeit, hilft uns dabei, unseren Beziehungsalltag zu überdenken. Denn wir sollten uns nicht allzu sicher wähnen, dass es mit unseren Partner*innen für immer so wie jetzt laufen wird und niemals anders.
Was tun, wenn die Liebe weniger wird?
Wir alle kennen Beziehungen, die irgendwann in Gleichgültigkeit enden. Beide leben nebeneinander her, man arrangiert sich. Passiert halt. Natürlich niemals uns selbst, sondern immer nur den anderen. Und schwupps übersieht man, dass man den zehnten Abend in Folge Serien streamt, statt Sex zu haben. Oder dass man sich im Restaurant schweigend gegenübersitzt – und eigentlich alles gesagt scheint. An solche Punkte kommen wir alle früher oder später, sie bedeuten nicht den Weltuntergang. Zumindest dann nicht, wenn wir sie bemerken, darüber reden und gemeinsam Konsequenzen ziehen.
David Schnarch schrieb mit „Die Psychologie sexueller Leidenschaft“ ein wunderbares Buch darüber, wie fatal Beziehungen sind, die hauptsächlich symbiotisch gelebt werden – spannenderweise ist gerade diese Symbiose für viele von uns zum Ideal geworden. Solche Beziehungen enden zwar seltener in Streitereien, dafür aber im harmonischen Stillstand, der jede Spannung im Keim erstickt. Und damit auch die Lebendigkeit. „Die Psychologie sexueller Leidenschaft“ ist ein dicker Wälzer, nicht ganz einfach zu lesen. Und doch Pflichtlektüre für alle, die sich fragen, warum sie in ihren Beziehungen immer wieder an die gleichen schmerzhaften Punkte kommen.
Schnarch prägte mit seiner Arbeit das Prinzip der Differenzierung, dessen Verinnerlichung äußerst hilfreich ist, falls die Partnerschaft Bestand haben soll. Diese Differenzierung lässt sich – stark verkürzt – in etwa wie folgt zusammenfassen: Wenn jeder Partner in der Lage ist, auch selbstbestimmt für sich allein zu leben und seine eigenen Bedürfnisse zu verwirklichen, dann kann er sich deutlich besser auf eine intime Verbindung einlassen. Es ist also meist keine gute Idee zu glauben, dass wir unsere Partner*innen „brauchen“. Derlei Konstrukte enden nicht selten in Co-Abhängigkeit und toxischen Beziehungen.
Liebe und Eifersucht
In anderen Worten: „Wir verwechseln Liebe mit emotionaler Verschmelzung“, so Schnarch. Eine der vielen Formen, die solche unheilvollen Beziehungsmuster prägen, ist für ihn die Eifersucht:
Eifersucht ist eine Form der emotionalen Verschmelzung. Bei extremer Eifersucht können wir es kaum ertragen, dass der geliebte Mensch ein von uns abgegrenztes, eigenständiges Wesen ist.
Besitzansprüche führen die Liebe nicht nur ad absurdum. Sie bedeuten zudem, dass wir unsere Partner*innen in ihrer Integrität verletzen, ebenso wie in ihrem Recht, für sich selbst sein zu dürfen. Die vermeintlich Liebe beweisenden Worte „mein Freund/Mann“, „meine Freundin/Frau“ bekommen damit einen neuen und nicht ganz angenehmen Beigeschmack, vor allem dann, wenn die Betonung auf „mein“ liegt.

Wirkt Liebe vielleicht dann, und sorgt so für neue Formen der Intimität, wenn wir dem Partner seine Freiheit zugestehen? Statt zu versuchen, ihn immer stärker an uns zu binden?
Teile meines Berufs bringen es mit sich, dass ich anderen Frauen und Männern körperlich deutlich näherkomme, als es in Beziehungen allgemein erlaubt ist. Meine Partnerin (ohne Betonung auf „mein“ 😉 freut sich für mich, wenn ich in die intime Körperarbeit gehe. Das irritierte mich zunächst, weil ich dachte: „Ist sie denn gar nicht eifersüchtig?!“ Mittlerweile macht mein Herz weit auf, wenn ich ihre ehrliche Mit-Freude spüre. Ich weiß, warum ich sie liebe, doch in diesen Momenten liebe ich sie noch ein klein bisschen mehr. Loslassen statt festhalten, um in Resonanz zu gehen, statt Liebe erzwingen zu wollen. Für mich persönlich ein zentrales Element intimer Beziehungen.
Liebe ist individuell
Was in der Regel nicht funktioniert: Auf andere zu hören, ob das, was und wie man lebt, denn nun Liebe ist oder nicht. Ein Beispiel: Meine Partnerin und ich leben in getrennten Wohnungen, ganz bewusst, das war schon immer so. Dieses Modell erlaubt uns, Intimität und Individualität zu gleichen Teilen zu leben – quasi als unsere ganz eigene Form der Differenzierung nach Schnarch.
Wenn wir anderen Paaren davon erzählen, kommt es zu ganz unterschiedlichen Reaktionen. Oft hören wir auf der einen Seite ein „Toll! Das wünschte ich mir auch manchmal“, von der anderen Seite ein „Das könnte ich auf gar keinen Fall!“ Es ist spannend zu beobachten, wie sich die Partner anschließend irritiert anschauen. Schließlich haben sie gerade eines von vielen Bedürfnissen entdeckt, bei dem sie unterschiedlich liegen, obwohl sie es bislang noch gar nicht wussten.
Im Satz „Das könnte ich auf gar keinen Fall“ schwingt meist ein Unterton mit, ein unausgesprochener Vorwurf: „Seid ihr sicher, dass das Liebe ist?“ Oder – an einen von uns gerichtet: „Bist du sicher, dass sie/er dich liebt?“ Ganz egal, wie wir unser Intimleben gestalten: Liebe ist keineswegs nur, wenn sie den Kriterien unserer Gesellschaft oder unseres Umfelds entspricht. Was Liebe ist, welche Facetten sie annehmen kann, wie sie sich nach und nach verändern darf, um dennoch zu bleiben, das können allein wir selbst entscheiden. Zunächst jede und jeder für sich, dann auch gemeinsam als Paar. Wichtig dabei ist lediglich zu reflektieren:
- Kommt ein Wunsch an die Liebe wirklich aus uns selbst heraus?
- Oder wird er uns von anderen souffliert?
In einer Beziehung geht es also nicht darum, möglichst schnell den maximalen Gleichklang der Interessen zu erreichen, wie es vielen vorschwebt. Denn dann müssen sich beide Beteiligte ein gutes Stück weit selbst aufgeben – schlechte Voraussetzungen für eine Begegnung zweier Individuen, die dennoch dynamisch bleiben soll. Manchmal sind es gerade die Unterschiede, die das Zusammenleben bereichern. Daniel Schreiber beschreibt es in seinem Buch „Allein“ wie folgt:
Es ist so leicht, der Versuchung zu erliegen, Freundinnen und Freunde als Teil und Erweiterung seiner selbst zu verstehen, sie aufgrund ihrer vermeintlichen Ähnlichkeit mit der eigenen Person zu lieben […] Gezwungenermaßen muss man das Gegenüber dabei verkennen. Man lässt die Chance verstreichen, zu erfahren, wer dieser Mensch, der einem nahesteht, wirklich ist.
Zwar bezieht sich Schreiber damit auf Freundschaften, doch in Liebesbeziehungen gelten die gleichen Gesetze. Ebenso für das Spannungsfeld in der Sexualität: Erst durch das, was uns unterscheidet, können wir uns maximal preisgeben.
Durch diese mutige, offene Begegnung entsteht langfristig mehr Vertrautheit, als durch wechselseitige Bestätigung und ein Leben im scheinbaren Gleichklang. Aus dem Englischen stammt das wunderbare Zitat, dessen Ursprung ich leider nicht kenne:
True intimacy is in the joining of two naked minds.
Ob wir nun Intimität durch Liebe erfahren oder Liebe durch Intimität: Das, was wir füreinander empfinden, verändert sich fortlaufend. Und dieser Umstand ist keineswegs eine Bedrohung, solange wir im Austausch und damit in Verbindung bleiben. Und doch kann es sein, dass die Liebe weniger wird, oder dass es sich zumindest so anfühlt. Indem man sich dies eingesteht, genauso wie dem Gegenüber, kann Neues entstehen – absolut kein bequemer Weg, aber allemal zielführender als die Verdrängung.
Was, wenn die Liebe endet?
Manchmal steht am Ende aber auch der Entschluss, sich zu trennen. Viele Paare bleiben zusammen, obwohl sie keine Intimität mehr verbindet und sich auch keine mehr einstellen mag. Weil sie Angst davor haben, allein zu sein, also einen Verlust an Intimität zu erfahren, der längst eingetreten ist.
Unabhängig davon, wie und wen wir lieben: Irgendwann, am Lebensende, müssen wir uns verabschieden. Je nach Auslegung wahlweise in einen endgültigen Abschied oder zumindest in eine Ungewissheit über das, was da kommt. Vielleicht hilft uns diese Erkenntnis dabei, die Liebe auszukosten. Aber auch dabei, schon vorher loszulassen – ohne Besitzanspruch, ohne vorgegebene Wahrheiten, wie sie denn nun sein sollte, die Liebe.
Egal wie wir unser Leben bis dahin gestalten: Wir können nicht nicht in Beziehung stehen, wir können nicht nicht lieben. Genau das macht unsere Menschlichkeit aus. Ein Gedanke, der Mut macht, nicht?
Bilder: Michael Fenton, Cathy Mü, Shaira Dela Peña
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