Was ist Intimität? Und vor allem: Unter welchen Bedingungen erfahren wir sie? Ist „intim sein“ erst dann, wenn wir uns körperlich nahekommen und Sex haben, oder fängt Intimität nicht viel früher an? Braucht es die Liebe dazu? Ein Auszug aus dem Buch Intimität: Wie wir zueinander finden von Ava M. Levin.

Unsere Vorstellungen einer intimen Begegnung sind so vielfältig, wie wir selbst es sind. Und doch versuchen wir ein Leben lang, uns ein Bild von Liebe und Intimität zu machen, um dieses Ideal dann auch zu erreichen – mal mehr, mal weniger erfolgreich. In wohl keinem anderen Bereich kommt es zu so vielen Missverständnissen wie bei jenen Gelegenheiten, in denen wir andere Menschen in unseren intimen Raum lassen. Egal ob es dabei um Liebe, Sexualität oder einfach „nur“ um Freundschaft geht.

Intimität umfasst so viele Aspekte unseres eigenen Lebens, aber auch unseres Zusammenlebens, dass es schier unmöglich scheint, allgemeingültige Definitionen zu finden. Der Duden weist auf zwei grundlegende Begriffsebenen der Intimität hin. Auf ein vertrautes, intimes Verhältnis einerseits, das auch Vertraulichkeit einschließt, auf der anderen Seite steht die „sexuelle, erotische Handlung, Berührung oder Äußerung“. Unabhängig davon kann sich Intimität in ganz unterschiedlichen Bereichen unseres Zusammenlebens zeigen, von Liebesbeziehungen und ähnlichen Konstrukten über die Familie bis hin zum Freundeskreis.

Emotionale und körperliche Intimität

Je nachdem, in welchem Lebensbereich wir uns gerade befinden, hat „Intimität“ für uns eine andere Bedeutung oder auch Färbung. Gedanklich sind wir schnell versucht, Intimität mit körperlicher Interaktion und Sexualität gleichzusetzen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass es umgangssprachlich umso „intimer“ wird, je mehr die sexuelle Komponente einer Beziehung im Vordergrund steht – selbst wenn rein platonische oder auch familiäre Verbindungen genauso innig, vertraut und einzigartig sein können.

Ihr volles Spannungsfeld – aber auch ihr volles Potenzial – zeigt Intimität meist dann, wenn zwei Menschen eine Liebesbeziehung eingehen. In seinem Roman „Diesseits vom Paradies“ prägte der Schriftsteller Francis Scott Fitzgerald das Zitat:

Sie schlüpften zügig in eine Intimität, von der sie sich nie erholten.

Wir versuchen ein Leben lang, „echte“ im Sinne von authentische Intimität zu erlangen. Idealerweise mit einer Person, die einige gern als „seelenverwandt“ bezeichnen. Um dann überwältigt festzustellen, wie dieser Prozess, wenn man ihm eine Chance gibt, keinen Stein auf dem anderen lässt.

Liebespaar Intimität
Innige Liebe

Doch wie entsteht sie nun, jene Dynamik, nach der wir uns sehnen, die wir aber gleichzeitig fürchten? Der Paar- und Sexualtherapeut Tobias Ruland schreibt dazu in seinem Buch „Die Psychologie der Intimität“, das in keinem Paar-Bücherschrank fehlen sollte:

Intimität gedeiht dann, wenn es zwei Menschen gelingt, trotz der unvermeidlichen Probleme und Verletzungen des Lebens immer den Respekt füreinander zu bewahren, sich einander authentisch zu offenbaren und jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um sich auf Augenhöhe zu begegnen.

Dabei braucht es für Intimität keineswegs immer genau zwei Personen. Jeder Mensch kann seine ganz eigene Intimität aufbauen und erfahren, sich selbst gegenüber. Intim sein geht also auch für Singles. Hinzu kommen Dreier- und sonstige Konstellationen, die zwar weniger verbreitet sind, aber genauso intensiv sein können wie das klassische Doppel.

Intim sein als Prozess

Je nach Betrachtungsweise kann Intimität unter anderem bedeuten: Momente intensiver Begegnungen und intensiven Erlebens, das Empfinden von Nähe zu einer Person, ein Aufeinander-Zugehen mit abgelegtem Visier und Panzer (also in Authentizität), ein Prozess der fortlaufenden persönlichen Entwicklung, aber auch das Ablegen von Grundannahmen, Vorurteilen und Sicherheiten – ein Prozess, der Mut und Neugier erfordert. Intimität beinhaltet gleichzeitig etwas, das wir mit einem anderen Menschen (oder mit uns selbst) teilen wollen, meist mit einem gewissen Grad der Exklusivität. Wir haben nicht den Anspruch, mit allen Menschen „intim“ zu sein, auch das macht unsere Liebe so besonders.

Unser Intimleben unterliegt der Kontrolle unterschiedlicher Institutionen, sozialen Normen und Bindungen an vorgegebene Rollen. Das mag sich in den letzten Jahrzehnten verbessert haben, doch auch heute noch sind wir längst nicht so frei und selbstbestimmt, wie wir es gern wären. Nun ist es nur bedingt hilfreich, auf unsere kollektive oder individuelle Vergangenheit zu starren, um ihr gleichsam die Verantwortung dafür zu geben, dass wir Intimität häufig eben nicht unbekümmert leben. Doch wenn wir uns fragen, warum wir in bestimmten Situationen so und nicht anders handeln, wenn wir anderen Menschen nahe sind oder nahe sein wollen, dann kann uns unsere Vergangenheit einen Hinweis geben. Einen Hinweis auf die Ursachen, aber auch auf erlernte Verhaltensmuster.

Die Erkenntnisse hieraus ermöglichen einen Blick auf Alternativen. Nähe kann in der Regel nur dann entstehen, wenn man bereit ist, die alten Muster loszulassen. Wie oft vermeiden wir Intimität, obwohl sie zum Greifen nah ist? Der Autor und Journalist Daniel Schreiber formuliert in seinem Essay „Allein“ eine Erfahrung, die den meisten von uns bekannt sein dürfte, in der einen oder anderen Form:

Wenn man spürt, dass so etwas wie Intimität mit einer Person möglich wäre, weist man diese Person ab, aufgrund vergangener Erfahrungen, weil man seine eigene Verletzlichkeit nicht aushält.

Auf eine sexuell-intime Beziehung übertragen bedeute dies:

In vielen Fällen kommt es zu einer Dynamik aus Exzess und Entsagung, sexuellen Eskapaden und Abstinenz, völligem Kontrollverlust und totaler Kontrolle, zu einer Dynamik, die man selbst nur schwer durchschauen kann und die dazu führt, dass man das, was man am meisten braucht, nicht bekommt: wirkliche Nähe.

Schreiber nennt in diesem Zusammenhang den Begriff der „sexuellen und emotionalen Anorexie“. Das dahinterliegende Verhaltensmuster zeichne sich folgendermaßen aus: Betroffene Personen erhalten unbewusst den Zustand eines „emotionalen Hungers“ aufrecht, indem sie echte Intimität vermeiden. Dazu entwickelten sie eine Reihe von – ebenfalls unbewussten – Vermeidungsstrategien.

Fehlende Intimität

Nun muss die Vermeidung von Nähe nicht immer gleich pathologischer Natur sein. Und doch haben wir alle in unserem Leben Erfahrungen gemacht, die das Gehirn „Alarm“ schreien lassen, während wir uns eigentlich nach mehr Kontakt und Verbundenheit sehnen. So wie bei meiner Klientin Anna. Sie gab sich betont locker, als ich sie das erste Mal traf – ein Zeichen, dass es in ihr anders aussah. Anna kam ohne viel Umschweife gleich zur Sache: „Ich verstehe nicht, warum ich mich beim Sex nicht fallenlassen kann!“ Schließlich fehle es ihr nicht an Gelegenheit. „Allerdings gerate ich immer an die falschen Männer.“ Eine Aussage, die ich in meiner Arbeit durchaus öfter höre, auch umgekehrt, von Männern über Frauen.

In unseren Gesprächen kommt recht schnell heraus: Anna hat sich, ihren Körper und ihre Grenzen noch nie wirklich selbst gespürt, was hauptsächlich in ihrer Biografie begründet ist. Nun lebt sie unbewusst das weiter, was ihr als scheinbare „Intimität“ vermittelt wurde. Obwohl (oder gerade weil) sie sich selbst nicht spüren kann, sucht die junge Frau regelmäßig nach anonymen Sex-Dates, bei denen sie rein als Objekt benutzt wird. Auf diese Weise gerät sie gar nicht erst in Gefahr, sich selbst spüren zu müssen. Die Suche nach Nähe – und die Herausforderungen, sie zu finden – hat viele Gesichter.

Schon der Gedanke an körperliche Berührung, die vom gewohnten, betäubenden Schema abwich, ließ meine Klientin unruhig werden. Durch ihre Begegnungen mit Männern wiederholte sie fortlaufend ein Muster, ausgelöst durch leidvolle Erfahrungen in der Vergangenheit, ohne den Zusammenhang mit der fehlenden Berührbarkeit zu erkennen. In der Körperarbeit begegne ich öfters Menschen mit vergleichbaren Erfahrungen, die von Grund auf neu lernen müssen, sich berühren zu lassen. Das Sich-berühren-Lassen ist dabei durchaus im doppelten Wortsinn gemeint.

Partnerschaft und Intimität

Ein nicht alltägliches Beispiel, klar. Viele von uns sind in der glücklichen Lage, durchaus Nähe und Intimität zulassen zu können. Und meist begegnen wir Partner*innen, die es gut mit uns meinen. Doch auch dann hat es die Intimität schwer. Der gute Wille allein reicht nicht aus, um sie dauerhaft zu festigen, wir alle kennen Strategien zur Vermeidung von „zu viel“ Nähe. Jede engere Beziehung erfordert es, dass beide Beteiligte gemeinsam an deren Herausforderungen wachsen wollen. Dass wir oft nichts Neues mehr wagen, sobald wir einen Partner gefunden haben, liegt an der scheinbaren Sicherheit, die uns genau diese Partnerschaft vermittelt. Wir hoffen unbewusst, alles werde schon irgendwie dauerhaft so weiterlaufen, wie wir es von der ersten Verliebtheit her kennen.

Intimität in Beziehung
Intimität in einer Beziehung

Tragischerweise führt genau dieses Festhalten am Status quo dazu, dass wir mehr und mehr „miteinander aneinander vorbeileben“, wie es die Sexologin Silvia Messenlehner formuliert. Wenn dann kein neuer Zugang zu intimen Momenten geschieht, dann trennen sich viele Paare. Beide versuchen ihr Glück mit einem neuen Partner, so lange, bis sich auch dort wieder der Alltag einschleicht. Natürlich gibt es Beziehungen, deren Ende für die Beteiligten besser ist als deren Fortbestand. Niemand sollte von dem Gefühl beherrscht sein „durchhalten zu  müssen“. Und doch verfolgen uns jene Dämonen unserer Persönlichkeit, denen wir uns nicht stellen, regelmäßig weiter, in jeder neuen Beziehung. Man spricht dabei auch von Schattenanteilen, also von persönlichen Eigenschaften, die wir gern verdrängen. Sie machen unser Dasein genauso aus wie jene Qualitäten, derer wir uns bewusst sind.

Egal ob wir nun mit uns selbst zu kämpfen haben und/oder mit den Herausforderungen einer Beziehung: Damit Intimität überhaupt erst entstehen kann, braucht es eine stabile Grundlage, nämlich Vertrauen. Vertrauen in unser Gegenüber, aber zunächst einmal Vertrauen in uns selbst. Mit mangelndem Selbstvertrauen akzeptieren wir gar nicht erst, dass andere Menschen uns nahe sein wollen. Und mangelnde Körperakzeptanz überträgt diesen Umstand auf unsere Sexualität.

Natürlich kann nahezu jede Begegnung, jede Erfahrung ein intimer Moment sein, in dem wir uns öffnen und als nahbare Menschen erfahren, also auch abseits von unserem Liebesleben – wir müssen nur genau hinschauen. Ich erlebe solche Augenblicke etwa dann, wenn ich voller Bewusstheit Zeit mit meiner Tochter verbringe. Wenn sie mich ganz offen an ihren Herausforderungen teilhaben lässt, die das Heranwachsen nun einmal mit sich bringt. Oder wenn ich mich meiner Partnerin gegenüber so als Mensch zeigen darf, wie ich bin, mit all meinen Facetten, aber auch Unsicherheiten.

Intimität am Lebensende

Intimität umfasst – wie auch die Liebe – alle Bereiche unseres Lebens. Und damit auch dessen Ende. Der Wunsch nach Begegnungen, die uns nahegehen, ist existenziell in uns verankert. Dass genau dies unsere Menschlichkeit ausmacht, wurde mir klar, als ich „Mehr vom Leben“ las. Ein Buch der Sterbe- und Trauerbegleiterin Johanna Klug, in dem sie von ihren Begegnungen auf einer Palliativstation berichtet. Und damit von ihrem täglichen Umgang mit dem Sterben. Sie schreibt darin, als wesentliche Erkenntnis aus ihren Erfahrungen:

Das Leben als endliches Geschenk anzuerkennen, verändert. Und die Menschen, die sich davor drücken und den Tod verdrängen und verleugnen, die werden sich bis zuletzt mit Oberflächlichkeiten beschäftigen, um dort ihre „Erfüllung“ zu suchen.

Und weiter:

Der Tod ist nicht erklärbar und bleibt ein ewiges Rätsel – für jeden von uns. Doch aus dieser Unsicherheit heraus agieren wir mit Angst, Verdrängung und Schweigen […] Genauso wie wir übers Leben reden und Pläne für die Zukunft schmieden, sollten wir auch dem Tod einen festen Platz darin geben und nicht länger tabuisieren.

Sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen ist ein genauso intimer Akt, wie uns lebendig zu zeigen. In einer ganz anderen, aber umso wichtigeren Form. Denn spätestens am Lebensende brauchen wir ihn, den Zugang zu uns selbst, um uns unseren Ängsten, aber auch unserem Leben zu stellen. Wer begreift, dass unsere Reise endlich ist, zumindest in ihrer jetzigen Form, der kann sich besser auf das Leben einlassen. Und damit auf jene Momente, die es lebenswert machen – auf Augenblicke in Intimität.

Wie erfahren wir uns möglichst intensiv, wie kosten wir das Leben aus? Indem wir uns fragen, was Intimität ausmacht, wann wir sie vermeiden und wie wir sie vertiefen können.

Bilder: Azmarina Tanzir, Külli Kittus, Sinitta Leunen