Ich werde immer wieder einmal gefragt, ob eine offene Beziehung neuen Schwung in die Partnerschaft bringt. Welche unterschiedlichen Varianten gibt es? Für wen eignet sich eine offene oder polyamore Beziehung, für wen nicht? Und welche Regeln sollte man beachten? Ein Überblick und Auszug aus meinem Buch zu achtsamer Sexualität für Paare. Ich freue mich über Fragen und die Diskussion in den Kommentaren, am Ende des Beitrags: Wäre eine offene Beziehung etwas für dich?

Die offene Beziehung – je nach Ausrichtung auch polyamore oder polyamoröse Beziehung genannt – ist ein Modell, in der man sich hin zu neuen Liebes- und/oder Sexualpartnern öffnet. Man kann diese neuen Partner gemeinsam als Paar kennenlernen, aber auch jeder und jede für sich alleine – quasi mit “Erlaubnis” und Wissen des anderen. Gleichzeitig gibt es Paare, die ihr Modell nicht als „offene Beziehung“ bezeichen, während sie sich dennoch gegenseitig deutlich mehr Freiheiten erlauben, als man es von konventionellen Partnerschaften gewohnt ist.

Offene Beziehung und Polyamorie

Die Bandbreite reicht vom gemeinsamen Besuch von Swinger Clubs und Kinky Partys über das verabredete Zulassen von Seitensprüngen (unter bestimmten Rahmenbedingungen) bis hin zu polyamoren Lebensmodellen. Bei Letzteren wird die Liebesbeziehung dauerhaft auf drei oder mehr Personen ausgedehnt, der Schwerpunkt liegt dann weniger auf frei gelebter Sexualität, sondern auf tatsächlichen Liebesbeziehungen. Und zwischen diesen Optionen gibt es unzählige Mischformen.

Dabei muss es nicht immer gleich die Öffnung sein, um mehr Freiraum in die Liebesbeziehung zu bringen. So gibt es Paare, denen es “ausreicht”, sich bewusst getrennte Wohnungen zu suchen. Oder eine gemeinsame zusätzliche Wohnmöglichkeit, etwa neben dem Familienhaus. Damit behält jeder seinen Rückzugsort – und kann ab und an nach seinem ganz eigenen Rhythmus leben.

Regelmäßige kleine Auszeiten vom gemeinsamen Alltag helfen dir nicht nur, wenn dich eine symbiotische Beziehung erdrückt. Oder wenn das Zusammenleben zu ständigen Konflikten um Dinge führt, die nicht wirklich wichtig sind. Sondern auch dann, wenn du eher der “Kümmerer” in deiner Partnerschaft bist oder dich dazu machst. Denn die Auszeiten zwingen dich quasi dazu, für dich selbst sorgen zu lernen.

Offene Beziehung zu Dritt
Es gibt viele Formen einer offenen Beziehung

Hinzu kommt: Im alltäglichen engen Umgang miteinander in eine sexuelle Spannung zu gelangen, das ist nicht immer einfach. Im Extremfall passiert es dann, dass die Lust stark nachlässt, ein Paar wie „Bruder und Schwester“ lebt. Oder dass es – mit Kindern im Haus – nur noch im Modus “Vater” und “Mutter” funktioniert. Auch dann ist gegenseitiger Freiraum hilfreich, wie auch immer die konkrete Ausgestaltung aussehen mag. Um sich danach wieder mehr als sexuelle Wesen begegnen zu können. Der Sexualtherapeut Ulrich Clement formuliert es in seinem Buch “Dynamik des Begehrens” wie folgt:

Das Spannungsverhältnis zwischen Bindung und Autonomie ist so etwas wie die Grundfigur aller menschlichen Beziehungen. Das gilt auch für die Sexualität. Es gehört zu den Daueraufgaben einer funktionalen Beziehung, diese beiden Bedürfnisse auszugleichen.

Du bist der vollen Überzeugung, dass all die zuvor beschriebenen Modelle niemals für dich in Frage kommen? Vielleicht liest du die nachfolgenden Abschnitte dennoch durch. Und sei es nur als Inspiration für andere Freiheiten, die du deinem Partner oder deiner Partnerin gibst. Wie viele gescheiterte Beziehungen würden wohl heute noch existieren, wenn die Beteiligten zumindest über vergleichbare Möglichkeiten gesprochen hätten, statt gleich alleine und heimlich loszulegen …

Vom Seitensprung und Affären

Wenn du der Versuchung bereits erlegen bist und einen Seitensprung oder eine Affäre hattest bzw. hast, dann stelle dir einmal folgende Fragen:

Ich meine diese Frage durchaus ernst, keineswegs als moralischen Zeigefinger. Im nächsten Schritt überlege, ob und wie du diese Erfahrung auch in deine Partnerschaft einbringen könntest. Und was dich eventuell daran hindert, deinen Wunsch nach mehr Freiheit offen zu äußern. Natürlich steckt dahinter meist die Angst, damit die Beziehung zu gefährden. Doch der Vertrauensbruch, der aus Heimlichkeit entsteht, ist möglicherweise eine noch viel größere Gefahr.

Unsere Gesellschaft wird bunter, das gilt sowohl für die Liebe als auch für den Reigen im Bett. Oft geht eine solche Öffnung gut, oft aber auch nicht. Es gibt drei klassische Szenarien (und noch viele andere individuelle) zum Einstieg in die weite Welt der offenen Beziehungen:

  1. Die bisherige Beziehung steht eh schon vor dem Aus, etwa durch aufgedeckte Affären und Fremd-Flirten. Die Öffnung ist der letzte Versuch, dennoch einen gemeinsamen Weg zu finden.
  2. Die Liebe und das Vertrauen sind nach wie vor präsent, aber die Lust auf den jeweils anderen hat bei beiden deutlich nachgelassen – sich dies gegenseitig einzugestehen ist alles andere als einfach. Doch die Ehrlichkeit kann deine Beziehung auf eine neue Ebene führen. Und hin zu alternativen Modellen, bei der die Neugier durch gemeinsame Abenteuer befriedigt wird.
  3. Beide Partner haben längere konventionelle Partnerschaften hinter sich, die nach dem so weit verbreiteten Muster „Honeymoon, Abkühlung, pragmatische Stagnation, Fremdgehen und Trennung“ abliefen. Nun wünschen sich beide einen Neuanfang, der diesen Kreislauf erstmals von vorneherein unterbricht.

Die letzte Variante läuft ganz nach dem Motto: Wenn die meisten Beziehungen eh daran scheitern, dass Mann und Frau ihre Augen irgendwann auf andere Personen richten, wieso sollte man diese Tatsache dann nicht gleicht offiziell mit einbeziehen? Um die Partnerschaft damit vielleicht sogar beständiger zu machen, als es im Modus der Exklusivität und der absoluten Treue gelingt?

In diesem Zusammenhang ist übrigens das Vorurteil, dass Männer ihre Frauen eher betrügen als umgekehrt, längst durch diverse Studien widerlegt. Eigentlich logisch, schließlich gehören zum außerbeziehungsmäßigen Schäferstündchen ja immer zwei Personen.

Seitensprung Liebe
Der Seitensprung als letzter Ausweg?

Es gibt einige Grundvoraussetzungen, damit ein offenes Modell die Chance hat, auf Dauer zu bestehen. Die Öffnung sollte aus einem gemeinsamen Wunsch heraus entstehen. Es braucht aus meiner Sicht vielmehr sogar eine gemeinsame Vision:

Hier müssen sich alle Beteiligten (denn die dritte oder vierte Person kommt ja noch mit dazu) mit Themen auseinandersetzen, die mit Scham und Versagensängsten zu tun haben. Zum Beispiel mit Fragen wie “Warum ist mir die Sexualität mit anderen Partnern so wichtig?” oder “Warum reicht mir meine Partnerin/mein Partner nicht aus?”.

Eine Vision für eine offene Beziehung könnte beispielsweise sein, die neuen Erfahrungen zu genießen, und sich gleichzeitig für den anderen selbstlos zu freuen, wenn dieser von einer erfüllten Liebesnacht zurückkehrt – in dem Wissen, dass die gemeinsame Liebe dadurch nicht geschmälert wird. An diesem Beispiel siehst du schon: Es ist ein recht langer und steiniger Weg, um solche idealtypischen polyamoren Modelle in die Realität umzusetzen. Offene Beziehungen sind wohl die herausforderndste Form von “gemeinsam mutig sein”. Ich kenne Paare, bei denen die Öffnung Bestand hat. Es ist faszinierend, deren Geschichten – bestehend aus zahlreichen Höhen und Tiefen – zuzuhören.

Regeln für die offene Beziehung

Es gelingt nicht vielen Menschen, ein offenes Modell so konsequent zu leben. Eine andere wichtige Voraussetzung für ein mehr an Freiheit ist das Aufstellen gemeinsamer Regeln. Etwa:

Paare, die es mit einer offenen Beziehung ernst meinen, legen derlei Regeln – die ihr selbst noch erweitern könnt – verbindlich fest. Idealerweise sogar schriftlich. Und sie sprechen in regelmäßigen Abständen über ihre Spielregeln: Was funktioniert gut, was weniger? Wo sollte etwas angepasst werden, wo wünscht sich einer der Partner ein anderes Vorgehen und zusätzliche Regeln? Man kann sich in einer offenen Beziehung langsam an neue Grenzen herantasten. Doch beim Ausmachen des Regelwerks geht der Kompromiss im Zweifelsfall immer zu Gunsten jener Person, die ein höheres Schutzbedürfnis hat. Alles andere würde auf Dauer nicht funktionieren.

Damit sind wir bei Voraussetzung Nummer drei: Eine offene Beziehung erfordert deutlich mehr Kommunikation und auch Diskussionen, als es in Partnerschaften eh schon der Fall ist. Siehe meinen Beitrag zur achtsamen Kommunikation in Beziehungen. Transparenz-Muffel, wortkarge Eigenbrötler und Emotions-Phobiker werden mit einem offenen Beziehungsmodell keine Freude haben.

Beziehung ist kein Status, sondern ein lebendiger Prozess, und damit manchmal auch “Arbeit” sowie Herausforderung. Wenn du diese “Beziehungsarbeit“ bereits bislang scheust, dann ist eine offene Beziehung meist zum Scheitern verurteilt. Denn bei jedem offenen Modell ist es notwendig, dass sich beide Beteiligten noch intensiver mit folgenden Fragen auseinandersetzen:

Du kannst die fortlaufende Sorge um den Status der offenen Beziehung deutlich reduzieren, wenn beide Partner jederzeit und sehr offen ihre Gefühle und Bedürfnisse äußern. Das mag zu Beginn mühsam sein, doch es ist reine Übungssache. Hier kann dir zum Beispiel die Methode der Gewaltfreien Kommunikation helfen. Denn was dein Partner oder deine Partnerin sagt, das ist nicht immer deckungsgleich mit dem, was bei dir ankommt.

Kommunikation in Beziehungen
Kommunikation in der Beziehung ist nicht immer einfach

Die letzte Voraussetzung ist gegenseitiges Vertrauen. Denn “Offene Beziehung” und “Vertrauen” sind keine Gegensätze, ganz im Gegenteil. Spannenderweise kann gerade in einem offenen Modell das Vertrauen noch mehr wachsen, als in rein monogamen Partnerschaften. Insbesondere dann, wenn die „offene Beziehung“ tatsächlich mit Offenheit und nach dem Prinzip der Achtsamkeit gelebt wird.

Erfahrungen mit der offenen Beziehung

Ich selbst lebe seit einigen Jahren in einer offenen Beziehung, nach rein monogamen Langzeitpartnerschaften und einer klassischen Ehe. Wenn sich meine Partnerin etwa für mich freut, wenn ich anderen Frauen (und Männern) eine Tantra Massage gebe oder ein entsprechendes Seminar halte, dann geht mein Herz auf.

Umgekehrt war es für mich eine zunächst irritierende, aber dann sehr lehrreiche Erfahrung, sie in ihrer eigenen sexuellen Freiheit zu bestärken. Wir haben das offene Modell jedoch von Beginn an bewusst gewählt, weil wir eine Alternative zum Standard ausprobieren wollten. Und weil wir beide sehr neugierige und offene Menschen sind. So spielte bei uns das Thema Eifersucht nur eine untergeordnete Rolle.

Vertrauen aufzubauen und zu gewähren ist insbesondere bei Szenario eins schwierig, das ich zu Beginn genannt habe („Die Beziehung stand schon vor dem Aus, durch aufgedeckte Affären und Fremd-Flirten.“). Denn dann muss nicht nur die gegenseitige Kommunikation neu verhandelt werden, sondern es bedarf generell einer schonungslosen Offenheit. Nur so besteht eine Chance, dass die alten Wunden langsam heilen können und neues Vertrauen wächst. Und dass dein Partner oder deine Partnerin erleben kann, dass es nicht erneut zu heimlichen Seitensprüngen kommt.

Falls du dich für das Modell der offenen Beziehung oder für polyamore Lebensmodelle interessierst, dann empfehle ich dir folgende Bücher:

Beide beinhalten provokante Thesen. Aber mit genau diesen solltest du dich beschäftigen, um überhaupt ein vergleichbares Beziehungskonzept in Betracht zu ziehen. Mein Rat: Redet mit Paaren, die Erfahrung mit offenen Beziehungen haben, oder die bewusst getrennte Lebensräume wählen. Alternativ dazu befreundet euch mit einem Paar etwa aus der polyamoren Szene, mittlerweile wird in fast allen größeren Städten ein polymorer Stammtisch veranstaltet.

Daneben gibt es Onlinebörsen, auf denen man Frauen, Männer und Paare findet, die ihr Liebesleben offener gestalten wollen. Diese Portale lassen sich zunächst auch rein zum “Stöbern” und zum Sammeln von Informationen nutzen:

Achte dabei auf seriöse Portale. Für Deutschland, die Schweiz und Österreich gibt es etwa den “Joyclub”. Aber auch auf Facebook finden sich passende Gruppen. Nimm es mit Humor, wenn du dort plötzlich das ach so „brave“ Pärchen aus der Nachbarschaft entdeckst – und von diesem entdeckt wirst. Denke immer daran: Die Verbots-Schranken „was darf ich und was darf ich nicht“ entstehen heutzutage vielmehr in unseren Köpfen, als durch gesellschaftliche Normen.

Bilder: Matia Rengel, Cynthia Magana, Prateek Katyal, Hayes Potter