Sexualität hat einen wesentlichen Anteil an unserer Intimität. Und doch braucht es natürlich weit mehr als das Aneinanderreiben irgendwelcher Körperteile, damit aus Sex ein intimer Akt wird, nämlich die emotionale Komponente. Ein Auszug aus dem Buch Intimität: Wie wir zueinander finden von Ava M. Levin.

Die unbewusst verinnerlichten Normvorstellungen, die unser Bild von Sexualität prägen, haben eine enorme Kraft. Genauso wie die gesellschaftliche Kontrolle, der Sex nach wie vor unterliegt – obwohl gerade hier Selbstbestimmung gefragt ist, in einem äußerst intimen Akt. Die Intensität bzw. der Grad, den eine Beziehung an Intimität bereits erreicht hat, lässt sich gut daran ablesen, wie die gemeinsame Sexualität aussieht. Das zeigt sich auch in meinen Gesprächen mit Paaren: Unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine erfüllte Sexualität ausmacht, spielen dort in der Regel immer eine Rolle, selbst wenn der ursprüngliche Konflikt ganz woanders liegt. Er träumt von diesem, sie von jenem, gestritten wird über den Putzplan.

Es gibt einen zentralen und stark unterschätzen Denkfehler, der verhindert, dass sich unsere Sexualität weiterentwickelt – und damit immer auch unsere intimen Verbindungen, sprich unsere Liebe. Der Denkfehler lautet: Wir gehen völlig selbstverständlich davon aus, aufgeklärt zu sein. Das mag für den rein technischen Akt gelten, zumindest in begrenztem Umfang. Denn erstaunlich wenige Frauen und Männer wissen über ihren Körper Bescheid oder über den des anderen Geschlechts. Sobald es über die rein körperliche Ebene hinausgeht, etwa bei der Frage, wie zwei Menschen eine innige Verbindung aufbauen und halten können, wird es noch nebulöser. Und eben kompliziert.

Aufklärung für Erwachsene

Eine Klientin von mir formulierte es wie folgt: „Sex ist wie Fahrradfahren. Man hat irgendwann seine sechs/sieben Tricks, mit denen es funktioniert. Und dann kann man es.“ Dieses Bild mag uns selbst beruhigen, doch es geht davon aus, dass Sex eine Aneinanderreihung mechanischer Bewegungen ist. Und kein zutiefst individueller, intimer Akt, der sich kaum planen lässt und bei dem unser Verstand und unsere konditionierte Routine gern einmal außen vor bleiben dürfen. Denn Intimität lebt vom Unvorhersehbaren, nicht von der Kontrolle über die Gesetze der Physik.

Paar küsst sich
Jede Intimität ist ein individueller Akt

Auf einem weit verbreiteten Portal für Pornos kann man sich über 5 Millionen perfekt ausgeleuchtete Geschlechtsakte anschauen, aufgeteilt in etwa 1.000 Kategorien. Und manchmal leben wir unsere Sexualität (oder lassen sie mit uns geschehen), als hätten wir all diese 5 Millionen Filmchen auswendig gelernt: mechanisch, zielorientiert, schnell, mit konformen Abläufen, eingezogenen Bäuchen und getrieben von vermeintlichen Höhepunkten. Vor allem jedoch nehmen wir den „Akt“ oftmals in der Außenperspektive wahr, als würden wir unsere eigene Heimporno-Show betrachten. Und nicht im gemeinsamen inneren Erleben.

In der Szene nennt sich das POV-Porno, also „Point of View“. Die Ich-Perspektive der Kameraeinstellung suggeriert dabei, man würde das Geschehene selbst erleben. Meist reduziert auf die Penetration, zudem bilden POV-Szenen in den allermeisten Fällen ausschließlich die „männliche“ Perspektive und damit Sichtweise ab. Zurück bleiben antrainierte, klischeehafte Sexmuster, die eher auf Distanz halten, als Verbindung herzustellen. In solchen Momenten verspüren wir vielleicht Erregung und „Geilheit“, doch wir nehmen die Lust und den eigenen Körper kaum mehr wahr. Das Empfinden läuft passiv im Hintergrund. Manche meiner Klient*innen beschreiben es wie eine Art Schleier, der sich über unsere Wahrnehmung legt: Alles läuft seltsam distanziert ab. Genauso wenig spüren wir anschließend den Partner oder die Partnerin.

Sind Pornos schädlich?

Als spielerische Komponente ist Pornosex vollkommen in Ordnung. Aber wenn er unsere komplette Intimität ausmacht bzw. zum Dauerzustand wird, dann fühlen wir uns nach derlei Sex schnell schal und ausgelaugt. Die meisten Singles und Paare, die zu mir kommen, leiden unter vorgefertigten Sexschablonen, die nicht wirklich ihren Bedürfnissen entsprechen oder die davon nur einen Teil abbilden. Und trotzdem schaffen sie es nicht, die Muster zu durchbrechen, die sie über viele Jahre verinnerlicht haben. Zu denken, wir „können“ Sex und seien aufgeklärt, macht uns blind dafür, Intimität von Grund auf neu zu erfahren.

Mir selbst ging es nicht anders: Viele Jahre lang lebte ich eine Sexualität, die wenig inspiriert, vorhersehbar und wenig verbindlich (im Sinne von verbunden) war. Selbst innerhalb meiner Beziehungen ging es oft eher um mechanische Abläufe als um emotionale Begegnungen. Lustigerweise dachte ich, die Kontrolle meines Körpers und das Beherrschen von Techniken würden automatisch dazu führen, meinem Gegenüber näherzukommen und ihm zu gefallen. Ja, mir hatte niemand beigebracht, was eine erfüllende sexuelle Liebesbeziehung ausmacht. Aber das taugt nur bedingt als Ausrede, schließlich hätte ich den Status quo jederzeit ändern können. Ich dachte schlicht „besser geht’s wohl nicht“ und „bei den anderen läuft es schließlich auch so“.

Fehlende Lust
Fällt oft schwer: Der Liebe Ausdruck verleihen

Viele Menschen können Liebe empfinden, haben aber nie gelernt, dieser Liebe auch im Rahmen ihrer Sexualität Ausdruck zu verleihen. Weder wissen sie, wie sie ihren Partner*innen Lust verschaffen können, noch sprechen sie gemeinsam darüber. Dabei führt genau jene fehlende Verknüpfung von Sex und Liebe zu einem Großteil der Dramen, die unser Liebesleben so schwierig machen.

Was macht man also, wenn man etwas nicht gleich naturgegeben beherrscht? Wenn man auf einem bestimmten Gebiet nicht weiterkommt oder immer wieder scheitert? Man lernt, studiert und übt. Da es in unserer Gesellschaft keinen Aufklärungsunterricht für Erwachsene gibt, stellte ich mein eigenes Studium zusammen. Ich verschlang ein Buch nach dem anderen. Zu weiblicher Sexualität, männlicher Sexualität, Beziehungen, Liebe und Paarpsychologie. Besuchte unterschiedliche Kurse zu Körperarbeit und zur intimen Persönlichkeitsentwicklung, schloss das Ganze mit zwei Ausbildungen zum Thema ab. Ursprünglich wollte ich mich nur persönlich weiterbilden, zum Beruf wurde das Ganze erst später.

Parallel dazu unterhielt ich mich mit möglichst vielen Frauen und Männern über das Thema. Tolle, tief bewegende Gespräche, die uns einander jeweils näherbrachten – ganz unabhängig von der Notwendigkeit, irgendeinen Beziehungsstatus haben zu müssen, um über Sex zu sprechen. Jedes Buch, jede Unterhaltung inspirierte mich, brachte mir einen anderen Aspekt der Intimität nahe. Dabei war es egal, ob ich mit diesem persönlich etwas anfangen konnte oder ob ich einfach nur lernte, wie vielfältig sich Liebe und Sexualität ausdrücken.

Verantwortung übernehmen

Ich frage mich oft, warum wir ungleich mehr Energie in die berufliche Weiterbildung stecken, die oft viele Jahre benötigt, in Sprachkurse oder Angelscheine statt in unser Liebesleben. Nichts gegen eine ordentliche Ausbildung oder Hobbys, die uns wichtig sind. Aber die Prioritäten, die wir setzen, sprechen dafür, was uns wichtig ist – und was weniger. Liebe geschieht erst dann, wenn wir erkennen, wie viel Aufmerksamkeit es für ein erfülltes Intimleben braucht. Und Sex folgt dann erst den Regeln der Liebe, wenn wir endlich die Verantwortung übernehmen, statt auf andere zu warten. Oder statt unser Wissen aus Pornos zu ziehen.

In meiner Arbeit begegne ich den immer gleichen Herausforderungen: tiefe Unsicherheit, mangelndes Vertrauen in sich oder die Partner, unvollständiges oder fehlerhaftes Wissen über körperliche und emotionale Prozesse. Erst mit der fortlaufenden Bereitschaft, etwas dazuzulernen, können wir diesen Herausforderungen begegnen. Das geht in einer Beziehung genauso gut wie als Single, für sich selbst, aber auch in Vorbereitung auf die nächste Partnerschaft.

Frau in Badewanne
Die eigene Sinnlichkeit entdecken

Wir wissen alle viel zu wenig über unsere Sexualität, die Sexualität unserer Partner*innen und unsere jeweiligen Bedürfnisse. Wir reflektieren viel zu selten, warum wir aufeinander zugehen und was wir am anderen lieben. In Relation dazu, wie wichtig den meisten ein erfülltes Liebes- und Sexleben ist, mutet diese Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit geradezu bizarr an. Da ist ein Thema, mit dessen „Optimierung“ wir uns ein ganzes Leben lang beschäftigen, in das wir täglich unglaublich viel Energie oder zumindest Gedanken stecken. All das mit einem Wissen versehen, das wir bereits als pubertierende Teenager hatten. Wir können jederzeit damit beginnen, die Lücke zu schließen.

Sexuelle Ressourcen

Gleichzeitig lohnt sich der Blick auf jene sexuellen Ressourcen, über die wir bereits verfügen, statt uns rein darauf zu konzentrieren, was (noch) fehlt. Auch sexuelle Störungen – oder das, was wir dafür halten – können durchaus eine enorme Belastung sein. Doch wenn wir uns ausschließlich mit der Nichtfunktion beschäftigen, dann übersehen wir, was an Alternativen möglich ist. Im Coaching habe ich regelmäßig Aha-Erlebnisse, wenn wir gemeinsam erarbeiten, was schon alles an intimen Fertigkeiten vorhanden ist. Es wartete meist viele Jahre darauf, aus dem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Lasst uns die kleinen Schritte, kleinen Berührungen, kleinen Erfolge genießen. Wir können trotzdem reflektieren, wie weit wir auf der Intimitätsskala vorangeschritten sind und was noch fehlt.

Der Weg zu mehr körperlicher Intimität verläuft in Stufen, in Phasen, die aufeinander aufbauen. Am Anfang steht bei vielen:

Ich habe Lust und will deswegen Sex.

Später kommt „Ich habe Lust auf dich/auf uns und will deswegen Sex.

Die nächste Stufe lautet: „Ich gehe in eine lustvolle Begegnung mit dir.

Und schließlich folgt irgendwann der Wunsch: „Ich gehe in Resonanz mit dir“.

Dabei stellt sich schnell die Frage: Steht in der Sexualität fast ausschließlich der eigene Lustgewinn im Vordergrund? Oder ist da Platz für Nähe, Begegnung und gegenseitige Wertschätzung, ohne ein „Recht“ auf die eigene Befriedigung?

Auch hier können die meisten von uns noch dazulernen. Die Chancen, einen intimen Moment in der Sexualität zu erleben, steigen, wenn man dies nicht „nur“ tut, um sich selbst gute Gefühle zu verschaffen, was grundsätzlich vollkommen in Ordnung ist, sondern wenn man gleichzeitig in Verbindung mit dem anderen gehen möchte und diese Verbindung damit stärkt.

Sex kann man üben. Aber das bedeutet keinesfalls, dass dieser am Ende „perfekt“ sein muss oder dass es solch eine Einstufung überhaupt gibt. Dazu sind die Augenblicke, in denen jene Intimität entsteht, durch die wir unsere Sexualität als so besonders wahrnehmen, viel zu individuell. Was in Momenten inniger körperlicher Nähe zwischen zwei Menschen passiert, das lässt sich zum Glück meist nicht in Worte fassen oder bewerten. Unser Verstand schaltet sich schlicht ab, und das ist auch gut so.

Müssen wir „genügen“ und „leisten“?

Meine Klientin Hanna war aufgebracht, als sie zu mir kam: „Ich habe einen neuen Freund und will es dieses Mal besser machen.“ Immer wieder kommen Frauen und Männer zu mir, die sich fragen, ob sie ihren Partner*innen sexuell „genügen“ und ob sie beim Sex genug „leisten“. Hanna hatte genauso das Gefühl, „langweilig“ im Bett zu sein. Ich sollte ihr konkrete Liebestechniken zeigen, die ihrem Partner gefallen würden. Es schadet nie, die sexuelle Kreativität auszubauen, doch in diesen Fällen der Unsicherheit steht zunächst etwas anderes im Vordergrund. Ich fragte Hanna nach ihren eigenen Bedürfnissen: „Was wünschst du dir für dich selbst, wenn du deinem Partner begegnest?“ – und blickte in ein ratloses Gesicht.

Eine Sexualität, die ganz konkret bei uns und unseren Partner*innen ankommen soll, hat ihren Ursprung in unserer eigenen Vita. Die Erkenntnis, dass wir uns bislang zu wenig um unser eigenes Begehren gekümmert haben, ist der erste Schritt zu etwas Neuem.

Bilder: Jenn, Pablo Heimplatz, Romina Farías, Aleksander Fajtek