Wir alle kennen ganz unterschiedliche Arten zu berühren und berührt zu werden. Doch was macht den Unterschied aus? Und wie können wir wieder „lernen“, uns auch wirklich zu be-rühren? Ein Auszug aus dem Buch Intimität: Wie wir zueinander finden.
Ebenso wie es Unterschiede im Berühren gibt, so gibt es auch verschiedene „Berührungsqualitäten“, wie man es in der Körperarbeit nennt. Am deutlichsten wird dies daran: Wir können eine andere Person mechanisch anfassen, ohne sie tatsächlich zu „meinen“ – ohne sie also zu be-rühren. Denn der physische Kontakt zweier Menschen hat stets eine körperliche, aber auch eine seelische Komponente.
Was macht liebevolle Berührung aus?
Genau das macht den Unterschied aus: Auf der einen Seite stehen lieblose, passive, oberflächliche oder gar unangemessene, begrapschende Berührungserfahrungen, auf der anderen Seite jene, die wir als liebevoll, aktiv und zugewandt empfinden. Letztere brauchen wir – da ist sich die Wissenschaft einig – von Kindheit an, um psychische Gesundheit und ein stabiles Selbstverständnis zu entwickeln.
Berührung hat stets zwei Seiten. Wir können durchaus in der Lage sein, andere umfassend zu berühren, während wir selbst uns schwer damit tun, Berührungen anzunehmen. Und umgekehrt. Beide Seiten der Medaille einigermaßen gleich verteilt zu beherrschen, das ist für die meisten von uns ein längerer Lernprozess. Oft ist uns nicht einmal bewusst, dass wir mit einem Ungleichgewicht leben, in der Differenzierung zwischen „anfassen“, „berühren“ und „berührt werden“.

In seinem Buch „Homo hapticus“ beschreibt der Psychologe Martin Grunwald, welchen Einfluss der Tastsinn auf alle menschlichen Lebensbereiche hat. Seiner Meinung nach ist es gar wichtiger für unser Überleben, dass wir fühlen können, als zu sehen, zu hören, zu riechen und zu schmecken. Er schreibt:
Ohne unser Sinnessystem wüssten wir nicht einmal, dass wir existieren. Denn eine seiner hervorragenden Leistungen besteht darin, dass wir uns jederzeit unserer körperlichen Existenz bewusst sein können. Wir denken uns nicht selbst, sondern wir fühlen uns. […] In jeder Millisekunde eines Tages können wir unser körperliches Dasein mit Gewissheit empfinden. Unser Tastsinnessystem hält im Hintergrund den Geist unseres Körpers zusammen.
Grunwald geht davon aus, dass wir bereits im Mutterleib ein erstes internes Konzept von Nähe entwickeln, aufgrund unseres Tastsinnessystems und des uteralen Körperkontakts. Ein Konzept, das sich fortlaufend weiterentwickelt:
Jeder Lebensbereich eines jeden Menschen wird täglich durch das stille Wirken des Tastsinnessystems geprägt. Es ist das biologisch größte und einflussreichste Sinnessystem, eine Meisterleistung der Natur – und zugleich eine Selbstverständlichkeit, die wir kaum würdigen.
Die Grundbausteine dieses Systems sind nach seiner Auffassung verantwortlich für die biologische Reifung unseres körperlichen Selbst und unseres Ichbewusstseins.
Ein solches Ichbewusstsein könne man sich als „Gewahrwerdung der eigenen Existenz“ vorstellen, als eine Art ursprüngliches „Wissen“, auf dessen Grundlage wir jederzeit sicher feststellen könnten, dass wir als Organismus am Leben sind. Über diese grundsätzliche Erkenntnis der eigenen Existenz verfügen wir laut Grunwald selbst dann, wenn wir blind und taub geboren werden. Berühren und berührt zu werden zeigt uns, dass wir leben – ein Gedanke, der mich zutiefst erdet.
Berührungen zulassen
Wie intensiv wir Berührungen – und damit auch Intimität und Sexualität – an uns heranlassen und empfinden können, hängt von mehreren Faktoren ab. Zum einen davon, welche Erfahrungen wir bislang mit Körperkontakt und emotionaler Verbindung gemacht haben: in unserer Kindheit, Jugend, mit unserer Familie, später in unseren intimen, aber auch in sonstigen Beziehungen.
- Lernten wir dabei einen Zugang, der von Neugierde und Leichtigkeit geprägt war?
- Oder von Ängsten, Rückzug und Beschämung?
- Was hat sich aufgrund dieser Erfahrungen entwickelt?
- Welchen Stellenwert messen wir der Berührung grundsätzlich bei?
Daraus ergeben sich weitere Fragen:
- Verfügen wir über genügend Selbstbewusstsein, um zu erkennen, dass wir es „wert“ sind, Berührung zu empfangen und zu genießen?
- Können wir uns in diesem Sinne anderen Menschen „zumuten“?
- Wie schnell lassen wir uns ablenken, wenn uns jemand berührt? Oder wenn wir andere berühren?
- Empfinden wir beides als angenehm oder eher als Pflichterfüllung?
- Wie sehr schränken uns unsere Gedanken ein, hängen diese vielleicht schon beim Ziel fest (Sex, Orgasmus)? Oder gar schon in der nächsten Begegnung, also in einer Zukunft, die vermeintlich mehr Erfolgserlebnisse verspricht?
Und weiter:
- Folgen die gegenseitigen Berührungen konformen, vordefinierten Bewegungsmustern?
- Bestimmt also unser Verstand darüber, welche Formen von Berührung wir als „lohnenswert“ betrachten und welche nicht?
- Können wir unserem Gegenüber die volle Aufmerksamkeit schenken, ohne gleich eine Gegenleistung zu erwarten?
- Oder ist es uns insgeheim sogar lieber, wenn wir berühren dürfen, statt berührt zu werden, weil uns ansonsten die Gefühle und Emotionen überfordern?
Nicht zuletzt ist es – als gute Nachricht für viele meiner Klient*innen – reine Übungssache, bis in welche körperliche und seelische Ebene bzw. Tiefe die Berührung bei uns wirkt.

Wer bislang nur wenig berührt wurde (oder sich nur wenig berühren lassen konnte, selbst wenn der körperliche Kontakt da war), kann seine Synapsen neu trainieren, quasi als Fitnesstraining für die Seele. Wobei hier nicht Kraft und Schnelligkeit zählen, sondern die bewusste, auf das momentane Erleben konzentrierte Erfahrung, wie sie uns beispielsweise die Achtsamkeit lehrt.
Berührung lässt sich (neu) lernen
Ausdauer hingegen ist durchaus gefragt. Denn die Zeitspanne, in der wir eine Berührungserfahrung aktiv erleben, ohne ihr auszuweichen oder uns abzulenken, lässt sich nach und nach ausdehnen. Berührung ist natürlich weit mehr als „nur“ Sex. Oder als jener Körperkontakt, der erfahrungs- und erwartungsgemäß auf eine sexuelle Begegnung hinausläuft. Wir können die Übergänge fließend für uns nutzen, solange wir nicht von einer bestimmten Erwartungshaltung beherrscht werden, wie körperliche Intimität aussehen muss.
Für die Hingabe in eine Berührung, falls diese Verunsicherung auslöst, braucht es ein geschütztes Umfeld. Und damit vor allem die Sicherheit, dass der Körperkontakt nicht automatisch zu etwas führen müssen (etwa zu „Sex“), was das aufkeimende Vertrauen gleich wieder ersticken würde. Die Berührungs-Coachin Alexandra Ueberschär schreibt zum Thema zwischenmenschlicher Zuwendung:
Menschen, die sehr wenige oder eher belastende Beziehungserfahrungen gesammelt haben, sehnen sich einerseits umso mehr nach bedingungslosem Halt. Sie sind auf der anderen Seite oft besonders unsicher in Bezug auf zwischenmenschliche Nähe.
Bedingungslose Berührung, in der Körpertherapie auch absichtslose Berührung genannt, ist ein mächtiges Werkzeug. Zumindest in der Theorie. Denn was im professionellen Rahmen gut geübt werden kann – die Absichtslosigkeit ist in der Regel ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung von Körpertherapeut*innen und -Coaches –, das gestaltet sich in den eigenen vier Wänden, mit den eigenen Partner*innen, deutlich schwieriger.
Die absichtslose Berührung
Ein solches „bedingungsloses“ Setting erfordert es, möglichst sämtliche Erwartungshaltungen beiseitezuschieben, ebenso jene bewussten oder unbewussten Ansprüche, die wir an unser Gegenüber stellen. Sprich: Wir müssen zunächst an unserer Bedürftigkeit arbeiten, die wir alle unwillkürlich mit in unsere Beziehungen bringen – selbst dann, wenn wir scheinbar selbstbestimmt agieren. Erst dann können wir ohne Folgeabsicht berühren, also ohne eine „Belohnung“ im Kopf zu haben.
Es braucht nicht zwingend den Kontakt mit einer anderen Person, damit unsere Körperwahrnehmung feiner wird. Ähnliches gelingt, indem wir uns selbst berühren. Etwa bei der Selbstbefriedigung oder, für viele sehr ungewohnt, indem wir uns einfach so selbst anfassen, streicheln und massieren, ohne lustvolle Absicht.
In beiden Fällen können wir neue Erfahrungen machen, zusätzliche Synapsen anregen, antrainierte Muster hinter uns lassen. Ähnliches geschieht, wenn wir lernen, sämtliche Formen der Berührung wieder bewusster zu erleben, ohne dass dahinter gleich das Empfinden irgendwelcher Körpersensationen oder der „Mega-Orgasmus“ stecken müssen.
All die „kleinen“ Berührungen, die wir normalerweise kaum wahrnehmen, können ein tiefgreifendes Erlebnis sein – eine Erkenntnis, die viele meiner Klient*innen nachhaltig prägt. Es macht sie zudem unabhängiger von der Jagd nach Höhepunkten, hierzu später mehr. Wenn wir uns bewusster spüren, dann kann die alltägliche Berührung ebenso eine kleine Offenbarung sein, wie der ganz „normale“ Sex.

Gleichzeitig bauen wir damit feinere Antennen sowie eine engere Verbindung zu unserem Gegenüber auf. Unsere Partner*innen spüren das, und sei es nur unbewusst. Sie werden selbst damit beginnen, ihren Intimitätshorizont zu erweitern.
Wer nach und nach die Wahrnehmung des Berührens und Berührt-Werdens schärft, der lernt damit neue Stufen der Intimität kennen. Auch und gerade beim Sex. In „Ist das normal?“ schreiben Melanie Büttner, Alina Schadwinkel und Sven Stockrahm:
Die Haut […] ist unser größtes sinnliches Organ überhaupt und damit unser größtes Sexorgan. Egal, ob auf ihr Fingerspitzen, eine Zunge, Federn, Stoffe oder ein Atemhauch wandern, stets reagieren ihre Rezeptoren. Sie registrieren so komplexe Dinge wie Druck, Dehnung, Vibration, Temperatur und Schmerz und leiten sie über unsere Nerven und das Rückenmark an das Gehirn weiter.
Für mich ist dieses Zitat ein wunderbares Plädoyer für mehr Abwechslung. Weg von gleichförmigen, eher mechanischen Berührungen, hin zum echten Eintauchen in den anderen Körper – und damit auch in die Seele. Mit jedem Quadratzentimeter, mit jeder Pore aufs Neue.
Den anderen Menschen wahrnehmen
Das gilt längst nicht nur für Begegnungen im sexuellen Kontext, sondern für alle Gelegenheiten, in denen wir einen anderen Körper berühren. Auch hier ein Beispiel: Wir können unsere Liebsten oder andere Menschen so umarmen, dass wir ihre Körper gar nicht wirklich wahrnehmen. Dann erinnern wir uns weder an die Art noch an die Qualität der Umarmung, wenn wir ihr nachspüren, selbst direkt danach nicht.
Den Großteil unserer Berührungen „erledigen“ wir derart oberflächlich. Das Gegenstück dazu wäre: Wir schenken anderen eine Umarmung in voller Bewusstheit, bei der wir genau spüren können, was in beiden Körpern vor sich geht. So entsteht auf beiden Seiten ein Moment, der nachhallt.
Die meisten von uns kennen es, sich „nicht gesehen“ zu fühlen. Doch genauso gibt es ein „sich nicht berührt/gemeint fühlen“, obwohl Körperkontakt da ist. Auch der Sex fühlt sich dann distanziert an. Physische Nähe hat also nur wenig mit Intimität zu tun, wenn sie nicht bewusst erfolgt oder wenn sie nur der eigenen Befriedigung dient. Einige Paare treffen ein unausgesprochenes Agreement der Art „Ich fasse dich nur an, damit du mir entgegenkommst“. Ein solches Verhalten mag als letzter Ausweg erscheinen, um überhaupt noch etwas zu bewegen, aber daraus folgt keine Begegnung. Schon gar keine intime.
Sich berühren zu lassen hat zugleich etwas damit zu tun, die eigenen Grenzen zu kennen und zu achten. Das wiederum erfordert, dem Gegenüber klar sagen zu können, wenn man sich eine andere Form der Berührung wünscht oder momentan gar keine. Einige meiner Klient*innen, denen es schwerfällt, sich auf Berührungen einzulassen, spüren ihre Grenzen kaum. Im schlimmsten Fall kann dies zur Grenzüberschreitung führen. Oder zumindest zu der Annahme, intime Körperberührungen müssten immer in die gleiche Richtung gehen oder ein bestimmtes Ziel verfolgen.
Die eigenen Grenzen kennen
Mein Klient Volker ist ein gutes Beispiel hierfür. Er hatte mehrere Beziehungen mit Partnerinnen hinter sich, die sexuell sehr fordernd waren. Für ihn eine echte Belastungsprobe, da er bei jeder intimen Begegnung das Gefühl hat, etwas „abliefern“ zu müssen. Das wiederum führte dazu, dass irgendwann seine Erektion und auch seine Lust ausblieb.
Erst in der Körperarbeit lernte Volker, sich zu entspannen. In diesem Fall von Mann zu Mann, denn in dieser Konstellation hatten die Berührungen für ihn (als heterosexuellen Mann) keine sexuelle Komponente, aber genau deswegen konnte er sich wieder umfassender spüren – zum ersten Mal seit langer Zeit.
Berührung gerät dann zunehmend in den Hintergrund, wenn uns visuelle Sinnesreize überfluten. Etwa in Form von Pornos, deren Stimulanz irgendwann beliebig und austauschbar werden kann. Zumindest machen immer mehr Menschen diese Erfahrung, wie die Anfragen zum Thema Pornosucht zeigen. Wenn man sich mit dem Entstehen von Intimität beschäftigt, wird schnell klar, wie wichtig unser Tastsinnessystem ist und wie sehr wir dieses oft vernachlässigen, weil wir uns auf die optische Erregung konzentrieren.
Nähe entsteht meist aus einem Mix an Sinnesreizen, deswegen lohnt sich die Beobachtung:
- Was nehmen wir in intimen Situationen mit unseren Händen, mit allen anderen Sinnen, aber auch „mit dem Herzen“ wahr?
- Welche dieser Erfahrungen können wir noch ausbauen?
Berühren und berührt werden, das ist weit mehr als nur eine Abfolge physischer Vorgänge. Es bedeutet, dass wir uns aufmerksam dem Leben eines anderen Menschen zuwenden und dass wir ihn an unserem Leben teilhaben lassen. Beides funktioniert nur im Austausch, nicht als Einbahnstraße.
Bilder: Sinitta Leunen, Joanna Nix-Walkup, Mathias Reding, Ramez E. Nassif
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